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Standpunkt zur „inklusiven Beschulung von Schüler*innen mit Sehbehinderungen (und Blindheit) an Schulen in NRW“

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In 2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Gerade im schulischen Bereich ist viel in Bewegung gekommen, da der Artikel 24 der UN-BRK dies entsprechend einfordert.
Im Bereich der integrativen Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigungen gib es seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entsprechende Erfahrungen und die Bedingungen unter denen auch heutzutage eine inklusive schulische Bildung für einen großen Teil der Schüler/innen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung erfolgreich gestaltet werden kann, sind bekannt.
Ein Blick in die Praxis der Inklusion – wie wir sie im BFS-NRW e.V. durch vielfältige Beratungsgespräche, bzw. direkte Kontakte zu betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren Familien, sowie unsere eigenen Erfahrungen als Menschen mit Sehbehinderungen, Sehbehindertenpädagogen bzw. -lehrer, Eltern betroffener Schüler*innen – zeigt allerdings, dass in vielen Bereichen noch ein Verbesserungsbedarf besteht.
Vor diesem Hintergrund hat der Vorstand des BFS-NRW e.V. sich intensiv mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt, die jetzt in diesem Standpunktpapier veröffentlicht werden und auch zur Diskussion mit der Politik und kommunalen Entscheidungsträgern dienen soll. Es ist uns bewusst, dass die tatsächlichen Bedingungen der Inklusion von Bundesland zu Bundesland, oder gar von einzelnen schulischen Regionen unterschiedlich sind, so ist dieses Standpunktpapier vorrangig auf NRW abgezielt, mag aber auch für eine übergreifende Diskussion dienen.

In diesem Standpunktpapier (erweitert um Punkt 9; 13.03.22) möchte der BFS-NRW e.V. seine Zielvorstellung bezüglich der schulischen Inklusion, im Besonderen in Blick auf Schüler*innen mit Sehbehinderung (ferner Blindheit) darlegen. Daraus ergeben sich derzeit acht Forderungen. Die Ziele sind nicht nur Utopie, sondern durchaus umsetzbar.

1. Wohnortnahe Schule muss bleiben 

Die Einzelintegration an einer beliebigen Schule ist der geeignete wohnortnahe inklusive Ort, wie sie in NRW seit den 1980er Jahren durchgeführt wird.

Die andere Idee, mehrere Schüler*innen mit gleicher Beeinträchtigung an einer Schule in einer Stadt oder Region zusammen zu beschulen – so genannte Schwerpunktschulen* -, macht bei Schüler*innen mit Sehbehinderungen oder Blindheit kaum Sinn, da die Anzahl sehr gering ist (10.000 Schüler*innen sind 20 sehbehindert und einer blind). Eine wohnortnahe Beschulung ermöglicht die Pflege von Freundschaften außerhalb der Schulzeit, sowie die Teilhabe an Aktivitäten im normalen Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen. Schwerpunktschulen wären somit doch wieder Schulen mit speziellen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und langen Anfahrtszeiten.

* Was von der Landesregierung In NRW unter "Schwerpuntkschule" gemeint ist, lässt sich auf dieser Webseite nachlesen.

2. Spezifische Förderbedarfe der Betroffenen müssen abgedeckt werden

Der weitere Bedarf an Förderung in spezifischen Bereichen wie z.B. Hilfsmittel-Schulung, Arbeitstechniken, Wahrnehmungs­förderung (Inhalte des so genannten erweiterten Curriculums) benötigt z.T. zusätzliche Lerneinheiten und muss im regulären Stundenplan abgedeckt werden.

Die erweiterten Lerninhalte müssen in den Lehrplänen umgesetzt werden. Sie sind dann Teil der Aufgabenfelder der Lehrkräfte und Bestandteil des regulären Unterrichts. Alle betroffenen Lehrkräfte haben ein Bewusstsein und Kenntnisse über die Notwendigkeit dieser Inhalte. Die qualitativ gute Vermittlung erfolgt durch speziell in den Bereichen ausgebildete Lehrkräfte (Sehbehinderten-/Blindenlehrer*innen, Rehalehrer*innen für alltagspraktische Fertigkeiten und Mobilitätstraining). Dieses Lehrpersonal steht in regionalen Kompetenz- und Ressourcenzentren zur Verfügung und wird bedarfsgerecht an den allgemeinen Schulen von dort aus eingesetzt. Auch die Regelschullehr- und Assistenzkräfte (Schulbegleiter) müssen geeignet fortgebildet werden. Durch die [Förderschulen Sehen] Zentren werden Peer-Group-Kurse, sowie Seminare und Fortbildungen für Lehr- und Assistenzkräfte angeboten.

3. Elternwahlrecht des geeigneten Förderorts muss bleiben 

Die Eltern haben das Wahlrecht, die geeignete Schule für eine optimale Förderung ihres Kindes zu wählen. Geeignete Schulen können auch stationäre Angebote im Förderschwerpunkt Sehen (Förderschule Sehen) oder eine geeignete Einrichtung außerhalb des Bundeslandes (NRW) sein.

Falls voraussehbar oder feststellbar ist, dass eine inklusive Beschulung nicht erfolgreich sein wird, bleibt eine stationäre Förderschule im Bereich Sehen wahlweise möglich, solange folgende höhere Bedarfe an Umfang und Zeitaufwand bestehen:

  • im sozial-emotionalen Bereich oder
  • mehreren Förderbereichen bzw.
  • für die Aneignung spezifischer Techniken des erweiterten Curriculums.

Der Besuch einer Einrichtung außerhalb des Bundeslandes aufgrund erhöhter Förderbedarfe oder nicht im Land vorgehaltener Angebote (z.B. allgemeine Hochschulreife/Vollabitur) vermeidet Umwege in der Schullaufbahn und unangemessene Schulzeitverlängerungen. Damit wird eine Gleichbehandlung gewährleistet. Deswegen sind auch anfallende Internatskosten durch die zuständigen Kostenträger zu leisten.

4. GL-Lehrkräfte brauchen gute und flexible Arbeitsbedingungen 

Lehrkräfte, die Schüler*innen mit einer Sehbehinderung an allgemeinen Schulen unterstützen und beraten (Lehrkräfte im Gemeinsamen Lernen = GL), sollten ihre für alle Schüler*innen verfügbare Zeit flexibel und bedarfsgerecht einsetzen können (Stundenpool, unterrichtsbezogene und außerschulische Unterstützungsmaßnahmen). So können sie den individuellen Bedarfen der unterstützen Schüler*innen gerecht werden.

Die in NRW als GL-Lehrkräfte bezeichneten Lehrkräfte nehmen neben dem Unterricht eine Vielzahl weiterer Aufgaben im Bereich erweiterter sehgeschädigten-spezifischer Lernbereiche (erweitertes Curriculum, s.o.) wahr. Diese Aufgaben betreffen nicht nur die Schüler selbst, sondern auch alle im Umfeld mit Ihnen arbeitenden Bezugspersonen. Die anfallenden Aufgaben sollten in einer Arbeitsplatzbeschreibung festgehalten werden, um Transparenz und Verbindlichkeit zu schaffen. Der zeitliche Unterstützungsumfang hängt auch von den bereit gestellten Kapazitäten anderer beteiligter Personen und Einrichtungen ab.

5. Beratungszeiten für Lehrkräfte muss es geben

Alle beteiligten Lehrkräfte müssen in ihrem Stundenumfang für den gegenseitigen Austausch über Bedarfe, Lehrinhalte und -methoden sowie materielle Anpassungen Zeiten erhalten.

Ziel der Unterstützung und Beratung ist es, dass die inklusive Beschulung auch und gerade dann funktioniert, wenn die unterstützende Lehrkraft nicht vor Ort ist. Dies erfordert, dass gerade auch für Regelschullehrkräfte Arbeitsstunden in ihren regulären Stunden vorgesehen werden. Diese Zeit wird benötigt, um sich gemeinsam über die individuellen Bedarfe der Schüler*innen mit Sehbehinderung und die notwendigen Anpassungen der Unterrichtsplanungen und -materialien in der Klasse auszutauschen.

Angepasste Unterrichtsbücher und -materialien sind zumeist nicht verfügbar und müssen daher selbst erstellt oder mittelfristig in speziellen Medienzentren bestellt werden. Deswegen sind auch solche Austauschgespräche für eine erfolgreiche inklusive, vorausschauende Unterrichtsplanung notwendig.

6. Eine Zwei-Lehrer-Besetzung muss es durchgängig in Klassen geben, wo Unterricht mit mehreren Schüler*innen mit Förderbedarf stattfindet

In Klassen mit mehreren Schüler*innen mit Förderbedarf muss es ein Zwei-Lehrer-System geben, um den Anspruch, alle Förderbedarfe („individuelle Förderung“) zufriedenstellend gerecht zu werden.

Ein Zwei-Lehrersystem bedeutet nicht nur eine „Doppelbesetzung“ mit zwei Personen, sondern erfordert zwei qualifizierte Lehrkräfte. Für die Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung (Blindheit) ist es erforderlich, dass die sehbehinderten-/blindenpädagogische Beratung und Unterstützung weiterhin gewährleitstet wird.

7. Assistenzkräfte /Schulbegleitung brauchen klar festgelegte Arbeitsbereiche 

Wenn für einzelne oder mehrere Schüler*innen mit sonderpädagogischen oder zusätzlichen Unterstützungsbedarfen eine Schulassistenz eingesetzt wird, muss deren Aufgabenbereich klar definiert werden.

Eine Assistenzkraft oder Schulbegleitung kann das Lernen und Leben in der Schule in bestimmten sehbehinderungs-spezifischen Bereichen und bei Tätigkeiten effektiv unterstützen.
Dabei soll sie jedoch nicht durch zu viel Hilfe, die Entfaltung der Selbstständigkeit der Schüler*innen verhindern. Dafür ist es wichtig, dass die Assistenzkräfte spezifisch geschult werden und durch die GL-Lehrkraft angeleitet werden. Eine Aufgabenabsprache aller Teambeteiligten ist notwendig.

8. Die Ausbildung in Fachkompetenzen im Sehbehinderten- und Blinden-pädagogischen Bereich muss gesichert sein 

Um den besonderen Förderbedarfen aus dem erweiterten Curriculum für Schüler­*innen mit Sehbehinderungen qualitativ gut und kompetent vermitteln zu können, muss es dazu ausreichend Ausbildungen und Fortbildungen von Lehr- und Fachkräften geben.

Die Aus- und Fortbildungen werden durch Universitäten und die Förderschulen im Förderschwerpunkt Sehen gewährleistet. Darunter fallen auch Aus- und Fortbildungskurse für Regelschullehrkräfte und Schulbegleiter*innen. Durch ausreichende Ausbildungs- und Fortbildungsangebote wird gesichert, dass es genügend Fachkräfte in dem Bereich gibt, um eine Inklusion vor Ort zu sichern.

9. Umfassende digitale Barrierefreiheit ist notwendig.

Digitale Lehr- und Lernmaterialien sowie digitale Angebote, die im schulischen Zusammenhang genutzt werden (z.B. Lernplattformen, digitale Schulbücher, Video- und Audiodateien usw.), müssen alle Kriterien des barrierefreien Zugangs erfüllen.

Vorstand BFS-NRW e.V. (Stand: März 2022)

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